Fadrina lässt zum 234. Mal den Blick durch die Küche schweifen. Der Wassernapf ist gefüllt bis zum Rand. Im Napf nebenan ist Fippos Trockenfutter bereit. Sie geht in die Stube. Seine Lieblingsdecke hat sie gelüftet und auf dem Sofa drapiert. Auf seinem Lieblingsplatz auf dem Teppich wartet ein Kauknochen. Fadrina wartet auch. Schon wieder wirft sie einen Blick auf die Stubenuhr. Es kommt ihr vor, als hätte jemand die Zeiger angehalten. Auf dem Sofatischen aus Arvenholz steht ein Rosenstrauss. Riet ist damit gestern Abend plötzlich vor der Tür gestanden, der Strauss hat sein ganzes Gesicht verdeckt. Sie lächelt, wenn sie daran denkt, wie er nach den richtigen Worten rang. Nun ist Riet sowieso nicht von der schwatzhaften Sorte, aber gestern hätte sie ihm seine Hilflosigkeit, sein Suchen nach der richtigen Formulierung am liebsten weggeküsst. "Für dich. Mora isch din grossa Tag!"
Sie ist noch immer gerührt. Riet weiss, wie viel Fippo ihr bedeutet, wie sehr die Ungewissheit und die Warterei der vergangenen Monate an ihrem ohnehin fragilen Nervenkostüm gezehrt hat. "Ab morgen habe ich Konkurrenz, wenn ich dich besuchen komme", hat er gesagt und schief gegrinst. Da hat er nicht unrecht, denkt sich Fadrina und schaut auf ihr Handy. Nichts. Wollte Marcel nicht früh in Rickenbach im Thurgau losfahren? Fadrina weiss, dass die Fahrt gut und gerne fünf Stunden dauern kann, doch jetzt ist es schon vier Uhr. Sie hat extra ihren Dienst abgetauscht, um im richtigen Moment da zu sein. Eigentlich möchte sie Marcel nicht bedrängen. Aber sie kann nicht anders, sie muss ihn anrufen.
Die Mailbox springt sofort an. "Ist alles in Ordnung? Melde dich doch!" Danach tigert sie in die Küche und schneidet sich aus lauter Frust ein dickes Stück Bergkäse ab. Erst jetzt fällt ihr auf, dass sie noch nichts gegessen hat. Und Brot ist auch keines mehr im Haus. Überhaupt, sollte sie nicht etwas vorbereiten, damit sie Marcel nach der langen Fahrt zum Essen einladen konnte? Ihre Nana hätte in dieser Situation bestimmt schon Capuns im Ofen warm gestellt oder eine Bündner Nusstorte hübsch angerichtet. Fadrina schüttelt innerlich den Kopf. Aus ihr würde wohl nie eine Köchin werden. Sie prüft ihre Vorräte. Getrocknete Pilze aus dem Bergell. Körnige Polenta. Rahm. Rasch gibt sie die Pilze samt Wasser in die rote Keramikschüssel, setzt Bouillon auf, schenkt sich ein Glas Weisswein ein, gegen die Aufregung. Wo bleiben sie nur?
Endlich, das Handy klingelt. Mit einem Satz ist Fadrina beim Küchentisch, ruft ein atemloses Ja? ins Gerät. "Ou, das tönt aber sehr aufgeregt", sagt eine ihr bekannte Stimme. Riet, nicht Marcel. "Sind sie schon da?" – "Leider nein". Fadrina kann ihre Enttäuschung kaum verbergen. Riet lacht: "Komm, lenk dich ab. Wenn man in die hinterste Ecke der Schweiz zieht, dauert es halt, bis Besuch kommt." – "Besuch?" Fadrina ist empört. "Fippo kommt. Das ist kein Besuch! Das ist ... das ist ..." –
"Komm, spuck es aus. Was ist er? Eine Art Partner?", neckt er sie.
"Das verstehst du nicht. Für euch Polizisten ist ein Hund nur ein Hilfsmittel."
Sie kann geradezu hören, wie er die Augen rollt.
"Leider muss ich zurück in den Dienst. Sonst käme ich sofort – mir scheint, du brauchst dringend Ablenkung. Ciao!"
Fadrina schaut aus dem kleinen Küchenfenster. Beinahe hätte sie die Bouillon vergessen, die sprudelt schon mehr als ein Whirlpool. Sie reduziert die Hitze, gibt die Poulenta hinein, rührt mit der verbogenen Holzkelle der Nana. Jetzt riecht es wieder wie früher, denkt sie zufrieden. Wie damals, als sie ihre Ferien bei der Nana verbracht hat und es immer nach Holz und Essen roch und Rauch und Gemütlichkeit.
Sie rührt gedankenverloren eine Acht durch die Polenta, giesst zwischendurch das Wasser von den Pilzen ab, kippt sie auf ein frisches Handtuch, tupft sie mit Haushaltpapier trocken, holt die gusseiserne Pfanne aus dem Schrank, gibt ein Stück Alpbutter hinein. Während er langsam schmilzt, hackt sie Zwiebeln und Knoblauch, nimmt zwischendurch einen Schluck Wein. Es zischt, als sie die Zwiebeln ins Fett gleiten lässt, der alte Ventilator rauscht und röchelt, als wäre er kurz vor dem Absterben.
Durch Rauch, Dampf und Geröchel vernimmt sie plötzlich ein Gepolter. Und was ist das? Ein Kratzen. Jemand kratzt an ihrer Haustür. Sie lässt die Kelle in die blubbernde Polenta fallen, schiesst zur Tür, öffnet sie und schreit auf.
Struppiges Fell saust an ihr vorbei, in die Küche, in die Stube, schmeisst den Rosenstrauss um, das Wasser sickert in den dicken Wollteppich, die Rosen liegen überall verstreut, das struppige Fell auf vier Beinen kurvt um den Salontisch, schnappt den Kauknochen, springt an Fadrina hoch, winselt und bellt und winselt und bellt, alles durcheinander, leckt mit Schlabberzunge über ihre Nase, ihren Mund, ihre Wangen, ihren Hals, schlägt dazu im Takt im Schwanz auf den Boden. "Fippo, Fippo!" – Fadrina kann nichts anders sagen, sie streichelt ihren Freund, drückt ihn an sich, vergräbt ihren Kopf an seinem Fell, krault ihn hinter den Ohren, fast blind, weil die Tränen ihr die Sicht nehmen. Als sie die Nase für einen Augenblick aus dem Fell hebt, nimmt sie einen merkwürdigen Geruch wahr, nach Feuer und Verbranntem.
Woher kommt der dunkle Rauch? Sie hustet und sieht, wie durch einen Schleier, eine Person, die hektisch ins Haus rennt und ruft: „Hier brennt es!“
Und schon ist die nächste Aufregung da. Ob Fippo und Fadrina bald zur Ruhe kommen und ihre Zweisamkeit geniessen können? Sie erfahren es bald hier. Auf Wiederlesen!
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