Ausgerechnet jetzt! Fadrina hält fassungslos die Aufforderung zur Weiterbildung in den Händen. Fünf Tage am Stück, immer von neun bis fünf. Na bravo. Und wo soll Fippo diese Zeit verbringen? Als Buschauffeurin nimmt sie ihn jeweils mit. Das Postauto und Fippo, die gehören im Unterengadin einfach zusammen. Streng genommen wäre es natürlich nicht erlaubt, aber da bisher niemand geklagt hatte, macht sich Fadrina keine schweren Gedanken.
Doch nun bringt diese Einladung zum obligatorischen Kurs alles durcheinander. „Sicherheit im Busalltag – so deeskalieren Sie erfolgreich“, heisst der Titel. Fadrina schüttelt den Kopf. In ihrem Postauto sitzen friedliche Einheimische und meist gut gelaunte Touristinnen und Touristen. Klar, manchmal wird die Stimmung gereizt, wenn alle gleichzeitig Skis, Stöcke, Kinderwagen oder Koffern an denselben Ort stellen wollen. Aber sonst? Sie überlegt. An einen heftigen Streit kann sie sich nicht erinnern. Dass sie bedroht worden wäre, noch weniger. Und wenn, wüsste sie sich zu wehren. In ganz krassen Fällen könnte sie immer noch ihren Freund Riet anrufen, den Polizisten. Er ist hier aufgewachsen und kennt einfach alle.
Fadrina schaut nochmals auf die Kursdaten. Zu blöd! Genau in dieser Woche ist Riet auf Segeltörn. Selbst wenn er hiergeblieben wäre, hätte er Fippo nicht wirklich betreuen können. „Du hast mit einem Polizeihund so viel Ähnlichkeit wie das Unterengadin mit New York“, sagt Fadrina mit Blick auf den schlafenden Hund. Fippo öffnet das linke Auge bis zur Hälfte, seufzt ausgiebig, dreht sich auf den Rücken, streckt alle Viere von sich und pennt weiter.
„Genau deshalb!“, sagt Fadrina und lacht. Manchmal kann sie sich nicht mehr erinnern, wie das Leben ohne Fippo war. Wie gut, dass er einfach eines Tages im Postauto sass und fortan als ständiger Passagier mitfuhr. Sie lächelt bei der Erinnerung, setzt Tee auf, holt die Tageszeitung in die Küche, blättert geistesabwesend, bis ihr Blick an einem Inserat hängenbleibt.
BEN – IHR SYMPATHISCHER DOGSITTER IM UNTERENGADIN
Ob Spaziergänge im Rudel oder allein mit Ihrem Hund, Betreuung bei Ihnen zuhause oder bei mir: Ihr Liebling wird sich in jeder pudelwohl fühlen.
Fachausweis und Referenzen vorhanden.
Ab sofort wieder freie Plätze.
Rufen Sie jetzt an.
Fadrina ruft jetzt an. Ben klingt nett. Er hat hier im Dorf noch drei weitere Hunde zu betreuen, Fippo liegt quasi auf dem Weg. Sie vereinbaren einen Probespaziergang.
Als Ben vor der Haustür steht, stellt Fadrina fest: Live wirkt er mindestens so nett. Fippo beschnuppert seinen Sitter und geht dann mit dem Fremden mit, ohne sich noch einmal nach Fadrina umzudrehen. „Treulose Tomate!“, ruft Fadrina hinterher. Insgeheim aber freut sie sich darüber. Wenn es mit Ben nicht klappt, hätte sie ein echtes Problem. Denn die Hundepensionen in der Nähe sind ausgebucht.
Aber es klappt. „Toller Hund!“, sagt Ben, als er Fippo zwei Stunden später wieder bringt. Fippo begrüsst Fadrina, als käme er von einem mehrtägigen Trekking zurück, leckt Ben einmal über die Hand, leert seine Wasserschüssel und lässt sich auf seinen Lieblingsteppich plumpsen.
Als der erste Tag der Weiterbildung kommt, macht sich Fadrina keine Sorgen. Sie hat Referenzen über den jungen Mann eingeholt, er wird ausnahmslos gelobt. Wie ausgemacht verlässt sie das Haus und legt den Schlüssel für Ben.
Fippo freut sich, als sein Hundesitter das Haus betritt. Er hat Ben längst als Freund abgespeichert. Kein Bellen, kein Knurren. Im Garten gibt es ein grosses Hallo, denn dort warten die neuen Freunde: Fanny, die Dalmatinerin, der Mischling Ursin und Labrador Hugo.
Zusammen marschieren sie zum kleinen Bergsee. Fippo klebt mit seiner Nase an Fanny, die zu verführerisch duftet. Ursin scheint eine Fährte aufgenommen zu haben, und Hugo interessiert sich für alles Essbare am Wegesrand, selbst wenn es Spurenelemente eines Krümels sind.
Als der See in Sicht kommt, ist Fippo nicht mehr zu halten. Mit einem Satz reisst er sich los und hechtet mit Anlauf ins Holzboot, das neben dem Steg am Ufer liegt. „Fippo, hier!“, ruft Ben, aber Fippo kann ihn leider gerade sehr, sehr schlecht hören. Er liebt Boote! In seinem früheren Leben haben Bootstouren zu seinem Alltag gehört. Plötzlich löst sich das Boot, es war anscheinend nicht festgemacht – und treibt weg.
Ben rennt mit dem Trio auf den Steg, fassungslos. Alle starren aufs Holzboot, das sich in einem erstaunlichen Tempo davonmacht. Was nun? In Ben arbeitet es fieberhaft. Dem Boot nachschwimmen? Es ist Anfang Herbst und das Wasser empfindlich kalt. Dem Ufer entlang rennen? Ben weiss zugut, wie tückisch das Moorgebiet rund um den See ist – er würde einsinken.
Hugo spürt die Spannung und beginnt zu bellen, Ursin macht sofort mit. Das Bellen geht in ein Heulen über. Nur Fanny bleibt cool und ganz Herrin der Lage. „Fippo!“, ruft Ben in seiner Ohnmacht. Etwas anderes kommt ihm nicht in den Sinn. „Fippo! Hier!“ Fippo blickt auf die bunte Truppe und sieht dabei aus, als müsste er in seinem Hundehirn eine sehr komplizierte Rechnung lösen. Und während Hugo bellt, Ursin kläfft und Fanny angestrengt Richtung Boot guckt, springt Fippo mit einem eleganten Köpfler ins Wasser und schwimmt Richtung Steg.
Hugo bellt noch lauter, Ursin kläfft sich heiser, Fanny zittert vor Erregung, und Ben? Ben steht da wie erstarrt und fixiert das zottelige Tier, das Zug um Zug näher kommt, neben dem Steg an Land geht, sich kräftig schüttelt und sich darauf gelangweilt die Pfoten leckt. „Fippo!“, sagt Ben, und seine Stimme zittert. Hugo und Ursin stehen vor Verblüffung stockstill und beobachten ihren neuen Kamerad, Fanny zieht winselnd zu ihm hin. Das Boot ist inzwischen am gegenüberliegenden Ufer angelangt, wo es leise aufschlägt.
Pling! Eine Nachricht. Ben zieht sein Handy hervor. „Habe gerade Pause“, schreibt Fadrina. „Wie läuft es mit Fippo?“ Ben wirft Fippo, der sich gerade zum zweiten Mal schüttelt, dass die Wassertropfen durch die Luft fliegen, einen Blick zu und muss grinsen. „Alles bestens“, tippt er.
Und welches Abenteuer wird Fippo das nächste Mal erleben? Sicher ist: Langweilig wird es mit ihm nie. Auf Wiederlesen!
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